Im zarten Alter von 8 Jahren hatte Lukas bereits den Ruf, ein Junge mit einem ganz besonderen Talent zu sein. Er konnte seine Klassenkameraden zu immer neuen Lausbubentaten überreden, ohne dass er selbst als Anstifter in Erscheinung hätte treten müssen. Erwischt wurden immer nur seine Kumpels, die ganz unbedarft das ausführten, was er ihnen in geheimer Runde befehligte. So wurde Martin dabei ertappt, als er der ungeliebten Banknachbarin von Lukas Zahnpasta auf das Pausenbrot schmierte. Besagte Schülerin hatte Lukas mehrfach einen Esel vor versammelter Klasse genannt, und Martin musste ihr nach seiner “Schandtat” eine Woche lang blankpolierte Äpfel mitbringen. Nicht besser erging es Heinrich, der der Klassenlehrerin einen Eimer Flüssigkeit über dem Kopf ausleerte – aus dem ersten Stock des Gebäudes wohlgemerkt. Der strenge Geruch, dem der Lehrerin für den Rest des Tages anhaftete war es wohl, der Heinrich einen saftigen Eintrag ins Klassenbuch und einen blauen Brief an die Eltern bescherte. Die Lehrerin hatte einige Tage zuvor Lukas eine Strafarbeit aufgebrummt, weil er den Unterricht durch permanent lautes Reden gestört hatte.
Im Erwachsenenalter konnte Lukas eben diese Eigenschaft gezielt dazu einsetzen, Mitarbeiter und Vorgesetzte gegeneinander auszuspielen. So stieg er unaufhörlich Position um Position höher, machte sich wenig Freunde, aber auch nur indirekte Feinde, war seine abgefeimte Taktik doch von der Art, die ihm keine direkten Unannehmlichkeiten brachte, konnte ihm ja niemand jemals seine Machenschaften eindeutig nachweisen.
Die Begabung andere nach seinem Willem zu manipulieren schützte Lukas jedoch nicht vor einem unverhältnismäßig hohen Arbeitsaufkommen. So arbeitete er beinahe rund um die Uhr, 12 Stunden am Tag waren sein normales Pensum, und auch am Wochenende blieb ihm kaum Zeit, etwas außerhalb der betrieblichen Mauern zu unternehmen. Lukas war verheiratet, hatte insgesamt 3 Kinder, deren Geburtstage er sich in seinen ständigen elektronischen Begleiter eintragen musste (von dem Hochzeitstag ganz zu schweigen). Lukas sagte, dass er nie ein anderes Leben gewollt habe als eben dieses, und dass man eben etwas leisten müsse, um dort zu sein, wo er sei. Was er verschwieg waren die Begegnungen, die ihn dahin gebracht hatten, wo er war. Er fühlte sich im Recht, arbeitete er doch hart und unnachgiebig, war er doch quasi rund um die Uhr erreichbar, um Probleme aus dem Weg zu räumen – koste es, was es wolle. Sollten doch andere die Abstriche machten, sollten diejenigen, deren Engagement zu wünschen übrig ließ oder die so verdammt tumb und ohne nachzudenken Anweisungen ausführten, vor die Hunde gehen. Egal war es ihm gerade.
Am 23. Dezember 2013, ein Tag vor dem Heiligen Abend, erschien dem Lukas ein Engel. Mit dem eisernen Schwert in der Hand sprach die Lichtgestalt zu ihm stundenlang, und hörte ihm stundenlang zu. Am 24. Dezember stand das Herz des Lukas still und wollte – trotz verschiedener Re-Animationsmaßnahmen – nicht mehr schlagen. Der Lukas lag stumm, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, fast sympathisch, und war 43 Jahre alt, geläutert.