Ich war in der Neuen Synagoge. Der Besuch hat sich aus der räumlichen Nähe und der Stille, die zu diesem Zeitpunkt um mich herum war, ergeben. Eigentlich wollte ich schon lange dorthin gegangen sein, bin ich doch sehr an diesem Ort und seiner Geschichte interessiert: Einerseits, weil ich kurz nach Beendigung meiner Schulzeit einige Zeit in Israel verbracht habe und mich seitdem immer wieder mit der jüdischen Kultur beschäftigt habe. Andererseits gibt es einen familiären Zweig, der mich ein Teilchen dieser Geschichte werden lässt. So war ich endlich in der Neuen Synagoge, wo mir der Zufall (oder war es das Schicksal) einen gehörigen Streich spielte. Kann auch sein, dass es die Mystik gewesen ist, die sich hier eingemischt hat. Wie dem auch sei, diese Begebenheit macht diesen besonderen Ort umso erstaunlicher.
Ich ging also durch die Fotoausstellung der israelischen Fotografin Aliza Auerbach. Die Exhibition trug den Titel Überlebende – Survivors. Die Künstlerin hat Überlebende des Holocausts fotografiert, die heute in Israel leben. Sie hat nicht nur die Überlebenden einzeln portraitiert, sondern diese in den Kontext ihrer Familie gestellt. So steht neben dem Einzelportrait des Überlebenden in schwarz-weiß jeweils das Familienbild in Farbe mit allen Nachkommen, also Töchtern & Söhnen, Enkeln & Urenkeln. Insbesondere eines der Familienbilder hatte es mir angetan: Es zeigt den Überlebenden Shoshan Cohen, der neben seiner Frau und seinem einzigen Sohn und dessen Gattin sitzt. Im Gegensatz zu den Großfamilienbildern der anderen Überlebenden ist die Familie des Shoshan Cohen recht klein. An der Wand im Hintergrund ist ein Gruppenfoto mit vielen alten und jungen Menschen zu sehen. Die Fotografie in der Fotografie stammt aus den 70er Jahren (zumindest der Bekleidung der Gruppe nach zu urteilen). Die Atmosphäre des Bildes faszinierte mich, also machte einige Bildausschnitte vom Bild im Bild.
Am Ende der Ausstellung lag zu jedem Überlebenden eine Kladde aus, in der die Holocaust-Geschichte des Portraitierten auf 3-Seiten erzählt wurde. Ich öffnete die Kladde von Shoshan Cohen und las seine Geschichte, was er in Tunesien während der deutschen Besetzung erleben, ertragen und erleiden musste, wie er von dort schließlich nach Israel kam und in einem Kibbuz aufgenommen wurde. Und wie Shoshan Cohen 1948 zusammen mit anderen Einwandern der Alija das Kibbuz Regavim gründete. Kibbuz Regavim. Ich las den Satz bestimmt dreimal, so erstaunt war ich. Nach meinem Abitur, im Dezember 1994 war ich für einige Zeit nach Israel gegangen und hatte im Kibbuz Regavim gelebt, gearbeitet und ein wenig Hebräisch gelernt. Es gibt etwa 270 Kibbuzim im ganzen Land, aber genau derjenige, dessen Portrait mich so fasziniert hat, ist der Gründer des Kibbuz, in dem ich gewesen bin.