Eine Schneeschnuppe fällt auf meine Hand. Es ist Sommer, aber ich stehe zwischen kristallinen Eiszapfen, zitternd und wünschte, die Sonne wärmte kräftiger. 5.342 Meter hoch, ein Gletscher, der im gleissenden Licht perlt, ich habe auf dem Weg hierher alles hinter mir gelassen, was heiß gewesen ist. Ich recke mein kaltverbranntes Gesicht in den Himmel, will schreien, aber weißer Atemrauch kommt aus meinem Mund, fließt in die Luft um mich herum und produziert wolkige Stille.
Vor zwei Wochen war alles wie immer. Ich hatte mich mit Sina getroffen, wie immer dienstags in der Orangerie im großen Park am Mittenrand der Stadt. Wir haben auf der Bank gesessen, Kirschkerne in hohem Bogen in den kleinen Teich gespuckt, dazwischen lustigsinnlose Worte geplappert, und das Glück hat uns den Nachmittag versilbert. Die Parkbank war unser zuhause für die eine Stunde, die wir uns in jeder Woche gesehen haben. Zum ersten Mal übrigens an einem klaren Tag Anfang März.
Ich saß auf der Bank, als Sina sich zaghaft neben mich setzte und mich mit ihren knallblauen Augen ansah. Die Sonne war gelbweiß, der Himmel leertürkis, und Sina holte eine hellbraune Papiertüte mit der Aufschrift “Esst Obst” aus ihrer riesigen roten Tasche. Wortlos hielt sie mir die Tüte hin, es waren Trauben darin. Blaue Weintrauben im März, das war der Anfang.
Seitdem haben wir uns in jeder Woche zur selben Stunde gesehen, und mit dem Einzug des Frühlings änderten sich die Früchte, die Sina mitbrachte. Ich habe dafür gesorgt, dass wir nicht nass wurden, wenn es regnete, denn ich habe einen großen, regenbogenfarbenen Schirm. Wenn ein zugiger Wind wehte, habe ich eine wollwohlige karierte Decke dabei gehabt und eine Thermoskanne mit leicht bitterem Kräutertee, wenn es kalt war.
Und dann kam der Sommer. Heiß und unerbittlich brannte der Feuerball Woche um Woche, aber wir hatten erst Erdbeeren, dann Johannisbeeren, Himbeeren, Brombeeren. Und Kirschen. Und wir waren verliebt, wir wussten darum und haben nie ein Wort darüber verloren. Weil wir miteinander gelacht haben, weil wir uns angesehen haben, weil sich unsere Finger beim Beerenpflücken aus der Tüte berührt haben. Da wären liebestrunkene Sätze nur störend gewesen.
Vor einer Woche war alles anders. Ich habe mich wie immer mit Sina treffen wollen, wollte Kirschkerne in hohem Bogen in den kleinen Teich spucken, dazwischen lustigsinnlose Worte plappern und uns den Nachmittag mit unserem Zusammensein versilbern. Aber Sina kam nicht. Sie war einfach nicht mehr da. Ich habe gewartet, ungeduldig zunächst, dann wütend, dann traurig, schließlich resigniert. Sie war einfach nicht mehr da.
Ich bin nach hause gegangen und habe mir ein Einweg-Flugschein in die Berge nach Nirgendwo gekauft. Ich wollte Eiseskälte, um meinen unklaren Kopf freizukämpfen. Ich wollte, dass alles, was fliesst, erstarrt. Hier bin ich nun, ich bin erstarrt, stehe auf dem Gipfel des Gletschers weit weg von allem Sommer, von jeglichem Obst, von Sina. Und frage mich: Was ist passiert? Was ist passiert mit mir? Was passiert mir?