Wiedertext

Moter

Ich sitze zwei Meter vor dem frischgrünen Rasenrand, die Beine übereinander geschlagen, blicke auf meine krassrosaleuchtenden Schuhe und wieder hoch, der Horizont verdeckt durch eine jetzt sattgrüne Buschlinie, belaubter Horizont, Frühlingsmittendrin. 

Warm, zu warm, sind die kalten Tage vor Ostern in die Erinnerung verblasst. Ich schaue nur noch selten auf meine Wetter-App, die Vorschau verändert sich nur zu sonniger, mehr Temperatur, Mitte Mai schon Hochsommer.

Ich muss gießen, meine empfindlichen Neupflanzungen ordentlich wässern, die Quitte, die Maiglöckchen, die Büsche rot und grün. Die vierte Mimosa hat es schon wieder nicht geschafft, braun und schlapp hängen die feinen Federblätter, aber nächstes Jahr kommt endlich eine, die überleben kann, muss – der Gärtner hat es versprochen.

Der Rasen in dichtem Grün vor mir, Gänseblümchen überall, die mögen es sonnig oder nass, egal, sie gehen nicht kaputt, sondern wachsen stets über sich hinaus, das ganze lange Jahr über, hören nicht auf zu sein, weiß-rosa-klein und nur scheinbar zu zart für diese Welt.

Mein Hibiskus sieht nicht gut aus, mager im Topf, die Oleander auch nicht, kahl im Beet. Vielleicht werden sie wieder, vielleicht auch nicht. Auch der umgesetzte Strauch am Zaun, einst stolz ausladend mit duftend blauen Blüten, bräunt vor sich hin. Die Hoffnung bleibt, dass Wurzeln wachsen und die Kraft sich gerade erst in der Erde ausdehnt, ungesehen überirdisch in diesem, aber sichtbar im nächsten Jahr. Mit dem Prunus hat es nicht geklappt, dreigeteilt und fast wurzellos, haben die drei Ableger alles verloren und sind schließlich als Feuerholz geendet. Einer steht noch, aber er ist nackt und wird das Schicksal seiner Brüderbäumchen teilen.

Der Rasen hat keine Löcher mehr, zwei Wochen Ferien haben ihr Übriges zur Erholung der grünen Fläche getan. Die Füße sind heute noch etwas müde, vor der Pause war mehr Energie, die muss erst wieder zurückkommen. Es weht ein Rauch über das Feld, die Füße treten Bälle, die Bälle rollen weiter, werden gestoppt und fallen weich auf einen Teppich, gewachsen aus Gänseblümchen.

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Wiedertext

Metor

Ich stehe am abgewetzten Rasen, die Schuhspitzen ganz leicht eingedreht, blicke zum Boden und wieder hoch, der Horizont verdeckt durch eine Buschlinie, grüner Horizont, Frühlingsbeginn.

Kalt, aber nicht eisig, sind die warmen Tage der letzten Woche in die Weite der Vergangenheit gerückt. Und so schaue ich alle fünf Minuten auf meine Wetter-App – ändert sich die Vorschau oder nicht? – unzufrieden über den angenommenen Verlauf der Wetterzeit.

Der Sonnenappetit ist groß, blau ist der Hunger, aber was ändert sie schon, diese App, sie kann ja nichts außer anzeigen, sie ist ein passives Stückchen Internet, ohne Seele, ohne Verstand, gefüttert von numerischen Algorithmen – binär vielleicht, irgendeine Programmiersprache dahinter, die ich Laie nicht kenne und die mir nichts sagt, außer dass sie mir den Output spiegelt, nichts weiter als Wetterdaten auf einem Bildschirm.

Der Rasen wellt sich unregelmäßig grünbraun vor mir, er will weg, doch die Gänseblümchen halten ihn. Ihnen ist es gleich, ob es sonnt oder nicht, ob es windet oder nicht, ob es regnet oder nicht, ob es gefriert oder nicht. Sie wachsen, sind einfach da, zart weiß und so zäh, dass es dem Rasenmäher wehtut.

Mein Baum ist verbrannt, die Blüten braun, wieder keine Kirschen dieses Jahr, kein Obstsommer, grün überall zwar, aber blütentod, das hat der späte Frost gemacht.

Der Rasen voller Löcher, kurz geschoren, zusammengehackt von Stollenschuhen, mein Schuhspitzen zeigen auf das Feld, dahin wo der Ball liegt und Füße den Boden zerpflügen. Alle Mann Richtung Tor, Ball an Fuß, Flanke, Kopf und Pfosten, Ecke, Aus.

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Weltsicht

Früher

Wenn aber wieder einer kommt und sagt: Das hat es früher nicht gegeben, dann frage ich: Wann ist früher? Und meistens hält einer dann den Mund und spricht nicht weiter. Nicht so Herr A. Der ewige Sich-Beschwerer erklärt mir mit brüllender Geste, dass früher war, als H und G noch laut Selbstgespräche führen durften, damit auch der letzte Zuschauer, der später nicht mehr hat dabei gewesen sein wollen, versteht, dass Sowas von Sowas kommt und dass es seine arierverd*** Pflicht sei, Etwas von Sowas zu befreien und koste es auch die Menschlichkeit. Früher, sage ich, war also dann, als Sie noch gar nicht… Herr A unterbricht mich: Es ist doch so, Sowas kann nie gut gehen. Wer Sowas mit Etwas mischt, bekommt weder So noch Et noch Was, sondern nur Ärger. Sowas sucht den ja richtig. Sowas ist kriminell, das liegt in den Genen. Dummheit, sage ich, ist auch erblich. Und damit schneide ich Herrn A das letzte Früher-war-alles-besser ab und gehe dahin, wo es keinen Platz für das ewige Gestern gibt.

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Das Buch der Dinge

1-Cent-Münze

Bin ich ein Ding? Ich bin kaum die Zahl wert, die auf mein Metall geprägt ist. Deshalb wollen sie mich abschaffen. Schreddern. Einschmelzen. Meine physische Existenz weicht im virtuellen Ich auf. Ich werde dann nur noch die zweite Ziffer hinter dem Kommanull auf dem Display sein. Eine schnöde Digitalisierung, sonst nichts. Im Online-Kontoauszug tauche ich noch ab und zu als Abgeltungssteuer auf. Im Portemonnaie allenfalls noch als Glückspfennig der Nostalgiker.

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Das Buch der Dinge

Nähnadel

Vorsichtig bahne ich mir meinen Weg durch den dünnen Stoff. Kühle Seide, auf den Millimeter gewebt aus dem zartesten Faden einer Seideraupe, die in China in einem Lackkästchen lebt. Ich bin Romatikerin, so stelle ich mir das Dasein dieses ungewöhnlich produktiven Insekts vor. Dick. Weiß. Fleissig. Ein bisschen wie die Nordeuropäer. Oder die Finger, die mich halten. Ich steche zu. Immer wieder dringt meine Spitze durch das feinstoffliche, glänzende Material. Auch ich bin ein Glanz, ich blitze mit jedem Stich.

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Das Buch der Dinge

Streichholz

Mein Kopf war schon immer feuerrot. Doch jetzt brennt er. Reibung hat dafür gesorgt, dass er lodert. Ich neige meinen Kopf, küsse den Docht. Der Funke will zunächst nicht überspringen, doch dann züngelt die Flamme bei meinem Gegenüber, wird größer, heller, während ich langsam vergehe. Ich hauche meinen letzten Schwefelatem aus. Mein Kopf ist kohlrabenschwarz und brüchig. Er wird nicht mehr gebraucht.

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Hasard100

Jogging

073_Hasard100_Jogging

Er läuft. Der Schweiß tropft brennend ins Auge, das Hemd klebt an seinen Körper. Er ist gut durchtrainiert, hat früher jeden Tag seine Jogging-Runden gedreht. Seine ausdauernde Kondition ist heute sein großes Glück. Er hört Schreie hinter sich. Er dreht sich nicht um. Läuft weiter. Schneller. Sein Puls rast. Früher hätte er das Tempo gebremst und wäre langsam ausgelaufen, um zur Ruhe zu kommen. Heute darf er das nicht. Es ist Krieg.

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Auslese

Blickzurück

Ich schnüre ein Päckchen voll von Jahresdingen, weil man das so macht an diesen letzten Tagen. Was bleiben soll mit diesem Paket sind die Erinnerungen an gute und an schlechte Zeiten, denn wie in jedem Jahr gab es dieses Auf und jenes Ab und Besonders einiges, Belangloses jedoch vieles.

Ich packe in meinen Karton alles an Jahresdingen, was mich bewegt oder unbewegt hat, was mich hat lachen, schmunzeln, schreien, weinen, freuen, glücklich und unglücklich, nachdenken, ärgern, lieben und hassen lassen.

Ich mache mir selbst ein Geschenk mit den Jahresdingen, damit meine Pläne für das kommende Jahr nicht verloren gehen, damit ich weiß, wohin ich gehe und welchen Weg ich nicht mehr gehen will. Das Päckchen liegt nun unter dem Baum in meinem Herzen, dessen Spitze in meinen Kopf Blüten treibt.

Ein geschnürtes Paket, in dem die Jahresdinge liegen, ist ein Trost zwischen Alt und Neu, und wenn es ausgepackt vor mir liegt, so freue ich mich daran ein paar Tage lang. Solange, bis das neue Jahr ein altes ist, und ein neuer Karton gefunden werden muss, um die neuen alten Jahresdinge darin zu verstauen.

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