Auslese

Hunger & Murmeln

Bunt und rund sind sie, die kleinen gläsernen Kugeln, hungrig nach dem Murmeln sind sie, sie kullern mit leisem Geräusch auf meinem Bauch aus Ebenholz, auf meinem Teint aus Seidenpapier, auf meiner Hand aus Tonerde. Ich habe keine Ahnung, wohin sie rollen wollen, sie flimmern in allen Farben und machen das Leben lebendig.

Ihr Murmeln seid niemals satt und gestillt, stets in Bewegung mal hierhin, mal dorthin, angefüllt mit gelinder Ambivalenz, durstig nach mehr Fläche, abfallender Ebene, Kurven und Steilhängen. Manchmal werdet Ihr unfreiwillig angehalten, Ihr verfangt Euch in einer Haarsträhne, fallt in die Nabelkuhle oder stolpert über eine Hautfalte. Dann rotiert Ihr unruhig hin und her, zittert angestrengt und springt zurück auf Eure Bahn, murmelt und kullert munter weiter auf der Kontur meines Körpers. Selbst in der tiefsten Schwärze der Nacht murmelt Ihr Euch durch die Gänge meiner Traumpfade, Ihr kugelt Euch vor Geschichten, Ihr kringelt Euch vor Erzählungen.

Niemals Stillstand, solange ich lebe, seid Ihr schwingender Teil meiner Selbst, gießt Farbe, Form und Ton in mein Ich. Niemals Standstill, solange ich diesseitig bin, seid Ihr klingender Teil selbst Meiner, murmelt Buchstaben, Sätze und Sprache in mein Ich.

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Auslese

Tulpendings

Jedes Jahr, wenn der März sich aus dem Winterpelz schält, kommen Tulpen. Überall präsent knospet diese Farbenpracht und will sich mit viel, viel Wasser in einer Vase entfalten. Und ich brauche es. Diese Blume, die so unersättlich nach dem Nass giert, um in voller Blüte zu stehen – ohne falschen Stolz, aber mit echtem Selbstbewusstsein. Die Tulpe, sie schreit geradezu danach, wahrgenommen zu werden und ist sich ihrer Symboltracht ganz und gar bewusst.

Also lege ich einen Strauss aus roten und weißen oder gelben und lilanen Tu Lips zusammen, bringe beide Sorten liebevoll in einem Glasgefäß zusammen, in noch geschlossenem Zustand. Doch am nächsten Morgen schon recken und strecken sich die Köpfchen gen Oben, sie wollen heraus, strotzen nur so vor Kraft und Ich-Zeig-Mich-Gerne. Auf die Bühne der Augenblicke, das ist das Ziel, eitel das pflanzliche Geschöpf und lieben muss man sie, die Blüte voll knallfrohem Lebens.
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Brause

Aufbrausend gebärden sich die Millimeterkügelchen in der Krümmung meines Handtellers, wenn ich einen Schluck Wasser aus meinem Mund auf sie spucke. Prickelnd platzen die Körnchen unter meinem Gaumen, wenn ich den Halbbrei abgeschleckt hin und her dort bewege.

Pink und orange und grün leuchtet der Schaum, der aus der Brause geboren wird, süßsaures Zeug, klebrig wenn nass, im Bauchnabel sich heimisch fühlend, aber auch auf der Kuppe meines Fingers, auf der Spitze meiner Zunge. Leise zischend verschwindet die knallfarbige Masse in den tiefen meines Körpers, macht sich breit in der dunklen Mitte meines Ichs, und ploppt dort munter weiter, gluckert und schmatzt, seufzt und stöhnt.

Ein Tütchen noch, bettele ich, gib mir von der Substanz, die kitzelt wenn feucht, die mich wild macht und bunter, die an den Sinnen zupft wie an einer halbgespannten Harfe. Ein letztes Löffelchen von dem grobkörnigen Feinstoff, der mich lachen macht, wenn er von fest zu flüssig wechselt, weil jeder einzelne Kristall im Miniformat explodiert. Jede Sekunde ein Nanofeuerwerk, ein Sausen und Brausen, das süchtig macht nach mehr davon.

Nichts ist im Tütchen mehr, alles aufgesaugt und weggeschluckt, sachte klingt es noch nach in mir, die Vibration wird schwächer, verebbt. Was bleibt ist bedrucktes Papier, das mir einen letzten Gruß zuwirft, damit ich mich daran erinnere, dass es bald wieder prall gefüllt sein wird. Das nächste Mal. In gelb. Oder rot. Oder andersfarbig, aber immer anregend. Und immer wieder aufregend.

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Sortenreichtum

Plan, Planer, Am Planesten

Der Mensch ist im Jetzt, lebt in der Vergangenheit und will in der Zukunft sein. Das was gestern war, soll heute unbedingt sein und am besten morgen auch, aber es ist immer anders, als der Mensch es im Jetztmoment gewünscht hat. Und auch wenn die Vergangenheit dem Menschen vorgaukelt, dass das, was gerade ist, nicht gut genug ist, so ist es doch besser, als das, was sein könnte, wenn es von dem Gestern bestimmt worden wäre.

Pläne scheinen alles zu sein, dabei sind es nur Entwürfe von Erwartungen, die im Jetzt nicht erfüllt worden sind. Was nicht so schlecht ist, wenn man, also Mensch, bedenkt, dass der Moment alles so ändern kann, dass die Pläne zwar über Bord gehen, der Mensch aber nicht. Denn das Jetzt zeigt mehr Möglichkeiten auf, als die Vergangenheit je offerieren könnte (denn das, was geschehen ist, ist ja festgelegt, weil bereits passiert). Und es gibt eine wohltuende Wirklichkeit, die der Zukunft entbehrt, denn was passieren könnte, ist stets im Konjunktiv begriffen und niemals nie sicher oder zu wissen.
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Auslese

24.000 Jahre später

Für PGY
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Im Zuge der Geschehnisse in und um den Inselstaat J ist es naheliegend, sich einmal Gedanken über die (wenn in Menschenjahren gezählt) unvorstellbar ferne Zukunft zu machen und sich auszumalen, welchen Einfluss eine “dem Grenzwert doppelt überschreitende” oder “100.000fach stärkere” oder einfach nur “extrem hohe” radioaktive Strahlenbelastung auf die Evolution von Leben auf diesem Planeten haben könnte.

Aus Nichts kann nur Nichts entstehen.
Sämtliche radioaktive Substanzen kommen in der Natur vor und lassen Leben Leben sein. Mitunter reichern sich diese Elemente sogar in einer schmackhaften Umgebung an: Bananen enthalten Kalium-40 (Halbwertszeit: 1,3 Milliarden Jahre), jedoch in so geringen Mengen, dass von einer “Verstrahlung” keine Rede sein kann (auch wenn etwa 10 % der gemessenen natürlichen radioaktiven Belastung eines menschlichen Körpers durch körpereigenes Kalium verursacht wird). Ein Verzicht auf Kalium wäre zudem tödlich, handelt es sich doch um einen essentiellen Mineralstoff, der als Elektrolyt in unserer Körperflüssigkeit an der Steuerung der Muskeltätigkeit maßgebllich beteiligt ist und von dem wir etwa 2 Gramm am Tag zu uns nehmen sollten. Trotzdem: Bananen sind natürlich radioaktiv. Und deshalb dienen die gelben Früchte als Maß der Dinge, wenn es um die Messung von geringer radioaktiver Strahlung geht: A banana equivalent dose (BED) is a defined to be the absorbed dose of radiation due to eating one banana. Eine Banane reicht aus, um einen Fehlalarm von sensiblen Messsensoren auszulösen.
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Pflanzungen

Ich habe einen Balkon, der 3 Meter breit und 5 Meter lang ist. Er ist zur Nordseite ausgerichtet, die Sonne scheint nie darauf. Aber ich pflanze. Jedes Jahr neue Pflänzchen, und das mehrmals, weil ich den Schatten ignoriere. Nachtschattengewächse sind nicht mein Gemüt, also versuche ich die lichtgeneigten Wesen mit klarem Wasser am Leben zu erhalten. Das gelingt mir über ein paar Wochen hinweg, dann muss ich Abschied nehmen von den verkümmerten Blättern und Blühten. Ein grüner Daumen wurde mir wohl nicht in die Wiege gelegt, obwohl ich mit ihnen spreche, den zarten Gebilden.
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