Hasard100

Magd

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Er beobachtet die Magd, wie sie mit ihren groben, rauen Händen den Zinkteller in den Holzbottich taucht. Um das stumpfe, nussbraune Haar hat sie ein Tuch geschlungen, so dass ihr blasses, hübsches Gesicht gut im matten, wächsernen Kerzenlicht zur Geltung kommt.

Gleich wird er sie sich nehmen.

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Jogging

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Er läuft. Der Schweiß tropft brennend ins Auge, das Hemd klebt an seinen Körper. Er ist gut durchtrainiert, hat früher jeden Tag seine Jogging-Runden gedreht. Seine ausdauernde Kondition ist heute sein großes Glück. Er hört Schreie hinter sich. Er dreht sich nicht um. Läuft weiter. Schneller. Sein Puls rast. Früher hätte er das Tempo gebremst und wäre langsam ausgelaufen, um zur Ruhe zu kommen. Heute darf er das nicht. Es ist Krieg.

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Winkel

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Mit der Spitze ihres Bleistifts tippt sie auf das weiße Blatt und berührt den blassroten Kreis, der sich von einem Glas Rotwein als kreisrunder Tropfen auf das Papier gesetzt hat.

„Es sieht aus wie ein Winkel in einem Kreis“, sagt sie und denkt an ihren alten Mathematik-Lehrer, der ohne Lineal gerade Linien mit der Kreide auf der Tafel ziehen konnte. Dafür waren seine Kreise meistens eher oval als rund.

Aber sie erinnert sich jetzt an ihn. Da fällt ihr sein Name wieder ein.

Winkelmann.

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Teydefink

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Ich öffne das Buch der Kanaren und heraus springt ein blauer Fink. Er tippelt lustig über die aufgeschlagene Seite, pickt hier und da nach einem Buchstaben. Er mag, so scheint’s, ganz besonders gern das große A und das kleine k.

Ich denke an die schroffen Felsen auf Teneriffa, den Vulkan, der nicht mehr spuckt und meine letzten Tage im Herbst dort auf der Insel.

Dann blickt er mich mit seinen blanken Knopfaugen an, nickt mit dem Köpfchen und ohne einen Piep zu tun, fliegt er davon, mein kleiner Teydefink.

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Abkürzung

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„Ich gehe Zuhaus“, sagt sie. Das ist grammatikalisch nicht ganz korrekt, aber sie hat das schon immer so gesagt – auch jetzt noch, wo sie Lehrerin an der kleinen Schule südlich von ihrem „Zuhaus“ ist.

Der schnellste Weg zur Schule führt durch den dunklen Wald. Das ist eine Abkürzung. Sie fürchtet sich nicht, denn im Wald ist es im Sommer kühl und im Winter still. Sie mag es mit dem Wald allein zu sein und nur das Knirschen ihrer Schritte zu hören.

Sie geht nicht über Los, aber die Abkürzung durch den Wald ist ihr Schicksal.

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Auslese

Schlüssel zum Glück

Mein Schlüsselbund ist schmal geworden. Leicht wiegt das Metall in meiner Hand, aber schwer dreht sich der Schlüssel im Schloss. Es ist der letzte Tag bevor April das Zepter übernimmt, und das Wetter ist launisch. Voll verhagelt laufe ich von dort nach zu mir, der Wind bläst scharf, die eisigen Körner schneiden mein Gesicht.

Ostern ist eine Woche weit weg und es sind Tage, die gefüllt werden wollen wie Eierliköreier. Der sonnige März hat mich dazu verleitet, meinen Geldbaum in die Sonne zu stellen und nun wirft er die fleischigen Blätter ab und will nicht mehr wachsen. Aber es ist doch Frühling, denke ich, Wachstum und Kraftsaft überall, aber hier nicht. Mein Bäumchen stirbt.

Zeit also, neue Wurzeln zu ziehen. Ich sammele die Dinge ein, ordne sie und bin ratlos, weil die Blättchen nicht gedeihen wollen. Der grüne Daumen fehlt mir, ich dachte, dass die Sonne die Sprossen spießen lässt, aber es bleibt nichts wie es war. Der Frühling ist, was er immer gewesen ist: Damit etwas neu ist, muss es vorher gestorben sein.

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Auslese

Blickzurück

Ich schnüre ein Päckchen voll von Jahresdingen, weil man das so macht an diesen letzten Tagen. Was bleiben soll mit diesem Paket sind die Erinnerungen an gute und an schlechte Zeiten, denn wie in jedem Jahr gab es dieses Auf und jenes Ab und Besonders einiges, Belangloses jedoch vieles.

Ich packe in meinen Karton alles an Jahresdingen, was mich bewegt oder unbewegt hat, was mich hat lachen, schmunzeln, schreien, weinen, freuen, glücklich und unglücklich, nachdenken, ärgern, lieben und hassen lassen.

Ich mache mir selbst ein Geschenk mit den Jahresdingen, damit meine Pläne für das kommende Jahr nicht verloren gehen, damit ich weiß, wohin ich gehe und welchen Weg ich nicht mehr gehen will. Das Päckchen liegt nun unter dem Baum in meinem Herzen, dessen Spitze in meinen Kopf Blüten treibt.

Ein geschnürtes Paket, in dem die Jahresdinge liegen, ist ein Trost zwischen Alt und Neu, und wenn es ausgepackt vor mir liegt, so freue ich mich daran ein paar Tage lang. Solange, bis das neue Jahr ein altes ist, und ein neuer Karton gefunden werden muss, um die neuen alten Jahresdinge darin zu verstauen.

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